Ästhetik der Absenz
Gedanken zu einem partizipativen Kunstprojekt von Kyungwoo Chun

von Ingo Clauß

Muss Kunst eine materielle Form annehmen, um im öffentlichen Bewusstsein wirksam zu werden? Spätestens seit den 1960er Jahren sind wir mit künstlerischen Strategien konfrontiert, die sich einer direkten Anschauung entziehen. Man könnte mit Peter Weibel von einer „Ästhetik der Absenz“ sprechen.¹ Und tatsächlich bewegen sich zahlreiche Werke der zeitgenössischen Kunst im Spannungsfeld von An- und Abwesenheit. So gibt es bekanntlich Konzeptarbeiten, die auf einer einzelnen Idee oder einer bloßen Handlungsanweisung gründen. Es kann also vorausgesetzt werden, dass Kunst nicht unbedingt eine konkrete, sinnlich fassbare Gestalt annehmen muss. Man denke nur an Sol LeWitts theoretische Ausführungen zur Conceptual Art: „Ideas can be works of art“ (1969).² Aber auch die Arbeiten von Lawrence Weiner und Michael Asher sind frühe Beispiele einer ästhetischer Praxis, die nicht mehr zwingend auf die Produktion sichtbare Bilder und Objekte abzielt. Die Leerstelle wird so zum eigentlich künstlerischen Ereignis.

Im Museum provozieren Methoden des Verbergens, der Reduktion und der Abwesenheit ein verändertes Sehen und Denken. Dies kann jedoch nur gelingen, weil die Institution einen entsprechenden Rahmen vorgibt. Dadurch wird die Leerstelle überhaupt als solche markiert und erfahrbar. Doch was bewirkt ein derartiges Vorgehen im Stadtraum? Öffentlich zugängliche Skulpturen und Monumente sind gemeinhin auf Sichtbarkeit angelegt, da sie im urbanen Kontext mit unzähligen Objekten und Zeichen um Aufmerksamkeit konkurrieren. Das Projekt des in Bremen ansässigen Künstlers Kyungwoo Chun macht diese Aspekte zum Bestandteil seiner Überlegungen. Obwohl sich die Unsichtbaren Worte über das gesamte Stadtgebiet ausbreiten, werden sie für die Passanten nicht zu sehen sein. Alles, was im Verlauf des Projekts entsteht, verschwindet sprichwörtlich unter den Pflastern der Stadt.

Aktionsort sind die städtischen Energie- und Wasserleitungen in Bremen und Bremerhaven. Sie bilden im Untergrund ein dichtes Netzwerk, mit dem weitestgehend alle Haushalte verbunden sind. Die Grundversorgung mit Strom, Wasser, Gas und Wärme wird heutzutage als wesentlicher Bestandteil der öffentlichen Infrastruktur vorausgesetzt – unabhängig davon, dass in den meisten Ländern und Kommunen weite Teile der Netze privatisiert worden sind und nach ökonomischen Prinzipien betrieben werden. Nur wenn es zu Störungen kommt, tritt das Versorgungsnetz auf zumeist unangenehme Weise zu Tage. Ein Ausfall kann unter Umständen wichtige Abläufe beeinträchtigen oder sogar unmöglichen machen. In solchen Ausnahmesituationen zeigt sich, wie grundlegend das urbane Leben allein von Strom und Wasser abhängig ist. Das ungleiche Verhältnis von Nutzen und fehlender Wertschätzung / Wahrnehmung hat Kyungwoo Chun interessiert.

Eingeladen wurden 2700 Mitarbeiter der swb, dem örtlichen Energieversorger von Bremen und Bremerhaven. Ausgangspunkt war eine Frage des Künstlers: „Welche Worte geben ihnen und anderen Menschen Kraft und Wärme“. Seit September werden die Antworten der Mitarbeiter gesammelt und auf die Versorgungsleitungen für Strom, Wasser, Gas und Wärme geklebt. Anschließend werden die Worte abhängig von der Baustellenplanung in den Erdboden der Stadt installiert. Es kann davon ausgegangen werden, das die Worte eines Tages wieder freigelegt und neu betrachtet werden. Das kann in naher Zukunft oder erst in mehreren Jahrzehnten geschehen. Bis dahin bleiben sie im Untergrund verborgen.

Für die Unsichtbaren Worte macht Kyungwoo Chun bereits bestehende Strukturen nutzbar und verwandelt diese auf poetische Weise in Kunst. In einem gemeinschaftlichen Prozess entsteht ein Struktur in und unterhalb der Stadt und damit auch eine veränderte Wahrnehmung des urbanen Umfelds. Die Teilnehmer schreiben sich gewissermaßen in den Stadtraum ein, erobern und beschreiben mit den Möglichkeiten der Sprache eine terra incognita, die unter ihren Füßen liegt. Auf diese Weise fügen sie parallel zum faktischen Energiefluss einen eigenen Fluss der Gedanken und Ideen hinzu, der von einer zukünftigen Generation entdeckt werden will. So betrachtet sind die Unsichtbaren Worte zugleich auch Zeitkapseln, die einen Dialog mit der Zukunft eröffnen.

Durch das Zusammenwirken vieler Beteiligter entsteht in der Stadt ein sprachliches Gewebe, das sich rhizomartig ausbreitet. Die vergrabenen Worte bilden dabei energetische Knotenpunkte. Obwohl sie oberirdisch keine physisch wahrnehmbaren Veränderungen hinterlassen, sind sie fortan im Bewusstsein der Beteiligten präsent. Die Stadt wird gewissermaßen symbolisch aufgeladen und damit als ein wandelbarer Lebensraum erlebbar. Für die Teilnehmer bekommen die Straßenzüge und Stadtteile, wo ihre Worte vergraben wurden, unversehens eine individuelle Bedeutung. Vielleicht wird der eine oder andere „seine Straße“ aus Neugierde aufsuchen und sie Bekannten und Freunden zeigen. Die Standorte der Unsichtbaren Worte könnten sich so als persönliche Landmarken etablieren und zukünftig als Orientierungspunkte in der Stadt dienen. Oder aber sie werden mit der Zeit vergessen, verschwinden nicht nur im Untergrund sondern auch aus dem Gedächtnis, bis sie eines Tages vielleicht wieder das Licht der Öffentlichkeit erblicken. Die Unsichtbaren Worte sind damit radikal von dem unterschieden, was gemeinhin, öffentlich oder privat finanziert, als Kunst im öffentlichen Raum präsentiert wird. Es geht nicht um Skulpturen aus Bronze und Stahl. Kyungwoo Chun zielt auf die gemeinschaftliche (Inter)aktion, auf einen Prozess, der sich in Raum und Zeit ereignet.

Auf der Website www.dieunsichtbarenworte.de ist eine Karte von Bremen und Bremerhaven zu sehen, auf der die verschiedenen Standorte namentlich gekennzeichnet sind. Die Karte nutzt Kyungwoo Chun als ein zentrales Hilfsmittel, um den Stand und die Entwicklung des Projekts zu dokumentieren. Die einzelnen Punkte sind mit dem Onlinedienst Google Maps verlinkt, so dass eine sehr präzise Lokalisierung möglich ist. Die Karte geht jedoch über die Bedeutung als ein rein funktionales Werkzeug hinaus. Es handelt sich um ein künstlerisches Repräsentationssystem. Zahlreiche Künstlerinnen und Künstler haben in ihrer Arbeit Karten verwendet oder sich Methoden der wissenschaftlichen Kartierung zu Nutze gemacht.

Die künstlerische Zusammenarbeit mit den Mitarbeitern der swb ist ein spannendes Unterfangen, das von seiner Eigendynamik lebt. Im Winter 2010, gab es bereits die ersten Gespräche mit der Geschäftsführung der swb Netze. Nach anfänglicher Skepsis hat sich die swb begeistert für die Verwirklichung des außergewöhnlichen Vorhabens eingesetzt. Die Kolleginnen und Kollegen sollten die Möglichkeit erhalten, ihre Arbeit, die unmittelbar mit der städtischen Energieversorgung verbunden ist, von einer anderen Perspektive aus wahrzunehmen. Kyungwoo Chuns ästhetische Praxis ist dafür hochgradig geeignet. Geht es doch um künstlerische Teilhabe, um einen Dialog auf Augenhöhe zwischen dem Künstler und den entsprechenden Mitarbeitern. Ohne ihre Beteiligung könnten die Unsichtbaren Worte nicht entstehen. Sie sind als Mit-Autoren Grundvoraussetzung und immanenter Bestandteil des Projekts.

Die klare Grenzziehung zwischen Künstler und Betrachter wird bewusst aufgehoben. Was bleibt ist ein offener Prozess, der nicht von einem sendungsbewussten Künstler ausgeht, sondern eine Möglichkeit der gemeinschaftlichen Interaktion bietet. Kyungwoo Chun tritt dabei als Autor und Initiator weitgehend in den Hintergrund. Er gibt einen Handlungsrahmen vor, in dem die Teilnehmer in einem Rahmen relativer Freiheit eigenständig agieren können und sich selbst als handelnde Subjekte erleben. Es sind letztlich ihre Worte, ihre Gedanken und Vorstellungen, die das Kunstwerk zu dem machen, was es ist.

¹Ulrike Lehmann/Peter Weibel (Hg.): Ästhetik der Absenz. Bilder zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, Klinkhardt & Biermann, München/Berlin 1994
²„Ideas can be works of art; they are in a chain of development that may eventually find some form. All ideas need not be made “ in Sol LeWitt Sentences on Conceptual Art, 1969. Vgl. auch Sol LeWitt: Paragraphson Conceptual Art, 1967.

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